Das Summen unter der Haut
Hamburg, 1977: Die Sommerferien stehen bevor, und der 14-jährige Julle verbringt seine freie Zeit am liebsten im Freibad. Neuerdings ist das Ganze sogar noch ein bisschen aufregender, denn für seinen neuen Klassenkameraden Axel empfindet Julle mehr als nur Freundschaft. Als die beiden im nahen Wald eine abgebrannte Hütte mit dubiosen Röntgen-Aufnahmen finden, weckt dies in den Jungen den Abenteuergeist. Wer war jener ominöse Karl Siebert, von dem diese Aufnahmen stammen? Und wer kann den beiden helfen, hinter das Geheimnis der Hütte zu kommen?
Stephan Lohses Romane waren für mich bislang eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Mit seinem Debüt "Ein fauler Gott" aus dem Jahre 2017 traf er mitten in mein Herz. Das Buch ist neben Florian Knöpplers "Kronsnest" wahrscheinlich der schönste deutschsprachige Coming-of-Age-Roman des 21. Jahrhunderts und zählt bis heute zu meinen absoluten Lieblingsbüchern aller Zeiten. Umso ernüchterter war ich vom 2020er-Nachfolger "Johanns Bruder", bei dem in meinen Augen überhaupt nichts zusammenpasste. Mit dem jüngst im Insel Verlag erschienenen "Das Summen unter der Haut" behält der Hamburger Autor seinen Drei-Jahres-Rhythmus bei - und macht glücklicherweise einen großen Schritt zurück in Richtung des melancholischen Entwicklungsromans.
Denn, so viel sei vorweggenommen, "Das Summen unter der Haut" ist ein sehr gelungener Roman geworden. Und das, obwohl er gleich im ersten Satz mit einem der vielleicht hässlichsten Wörter der deutschen Sprache beginnt: Brustwarzen. Vorangestellt ist dem Buch ein Zitat von Maik Klingenberg, womit der Leserschaft gleich die Richtung vorgegeben wird. Denn das Motto der "Tschick"-Hauptfigur ist nicht die einzige Verbeugung vor dem modernen Klassiker von Wolfgang Herrndorf.
Ich-Erzähler Julle ist ein liebenswerter Protagonist, der sich seiner Homosexualität erstaunlich früh bewusst ist. Im erzählerischen Präsens und meist kurzen Sätzen folgt man ihm lachend und weinend durch die vielleicht 31 aufregendsten Tage seines bisherigen Lebens. In nahezu jedem Satz spürt man die große Empathie des Schriftstellers für seine Hauptfigur. Vielleicht liegt es an dieser Empathie, dass Julle es trotz seiner "Andersartigkeit" erstaunlich leicht hat. Seiner älteren Schwester gegenüber hat er sich bereits geoutet, ein versehentliches Verplappern in einer Notsituation hat für ihn keine negativen Folgen. Die Freundschaft zu Axel verläuft - trotz der Gefühle Julles - reibungslos. Womit wir bei einem der Vorzüge des Romans wären, der sich bei näherer Betrachtung jedoch als Schwäche entpuppt. "Das Summen unter der Haut" ist ein Wohlfühlbuch. Fernab jeder Art von Zynismus mit nur wenigen Konflikten, die sich erstaunlich schnell in Luft auflösen. Das ist einerseits schön und vielleicht genau das Richtige für eine Sommerlektüre. Andererseits fehlen dem Buch dadurch ein paar Ecken und Kanten. Fast fühlt man sich ein wenig eingelullt. 1977, als die 14-Jährigen noch Queen hörten, ihre meiste Zeit draußen verbrachten. Als man sich gegenseitig Mixtapes schenkte oder selbstklebende Fotoalben. Ja, als 14-Jährige sich noch als Kinder bezeichneten - und sogar Kinder waren. Die pure Nostalgie, ohne jedoch kitschig zu sein. Höchstens ein bisschen glatt. Früher war zwar alles anders. Aber auch einfacher?
Das ist Kritik auf hohem Niveau, denn "Das Summen unter der Haut" ist so liebevoll, dass man Autor und Buch kaum böse sein kann. Gleichzeitig freut man sich über die zahlreichen Verneigungen vor Klassikern der Coming-of-Age-Literatur. Der Roman beginnt ausgerechnet in einem Freibad, womit Stephan Lohse vielleicht selbst voller Nostalgie auf sein eigenes Debüt zurückschaut. Es wird in Kapitel 19 eine weitere Freibadszene geben, die den romantischen Höhepunkt des Romans darstellt. Es gibt eine Tankstellenszene krimineller Natur, die vielleicht nicht ganz so verwegen endet wie in Herrndorfs "Tschick". Und wer denkt nicht an Stephen Kings "Die Leiche" (aka "Stand By Me"), wenn Julle und Axel in der verbrannten Hütte Karls Röntgenbilder betrachten - und dabei Angst haben, den verbrannten Karl selbst zu finden?
Zudem ist der Roman ein Mutmach-Buch, das gerade junge Leser:innen ansprechen sollte und vielleicht auch deshalb in weiten Strecken an einen sehr guten Jugendroman erinnert. Es füllt eine Nische, denn queere Literatur für sehr junge homosexuelle Kinder und Jugendliche gibt es auch heute noch viel zu wenig. Wahrscheinlich wäre ich 1988 komplett ausgeflippt, wenn ich Julles Satz auf Seite 30 hätte lesen dürfen: "Ich wusste schon mit elf, dass ich schwul bin." Das ist hinreißend und hätte mir und vermutlich einer ganzen Generation unvorstellbar gut getan. Insofern ist Julle ein Vorbild. Und seine Liebe zu Axel übrigens absolut verständlich und nachvollziehbar, denn diese Figur ist in ihrer Mischung aus Witz, Güte und Vernunft vielleicht schon ein wenig zu perfekt.
Ein weiterer Höhepunkt des Romans ist zweifellos das Finale. Während zuvor ein überwiegend heiterer Tonfall vorherrscht, den Stephan Lohse mit feinem Humor zeichnet, schlägt die Melancholie auf den letzten Seiten gnadenlos zu - und lässt offene Fragen und wirbelnde Emotionen zurück. Und so schließt man das Buch mit dem Gefühl, gemeinsam mit Julle und Axel einen unvergessenen Sommer erlebt zu haben. Eine nostalgischen Trip zurück in die eigene Kindheit und Jugend. Als alles anders war, und die Gefühle kaum greifbar.
Früher war alles anders
Hamburg, 1977: Die Sommerferien stehen bevor, und der 14-jährige Julle verbringt seine freie Zeit am liebsten im Freibad. Neuerdings ist das Ganze sogar noch ein bisschen aufregender, denn für seinen neuen Klassenkameraden Axel empfindet Julle mehr als nur Freundschaft. Als die beiden im nahen Wald eine abgebrannte Hütte mit dubiosen Röntgen-Aufnahmen finden, weckt dies in den Jungen den Abenteuergeist. Wer war jener ominöse Karl Siebert, von dem diese Aufnahmen stammen? Und wer kann den beiden helfen, hinter das Geheimnis der Hütte zu kommen?
Stephan Lohses Romane waren für mich bislang eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Mit seinem Debüt "Ein fauler Gott" aus dem Jahre 2017 traf er mitten in mein Herz. Das Buch ist neben Florian Knöpplers "Kronsnest" wahrscheinlich der schönste deutschsprachige Coming-of-Age-Roman des 21. Jahrhunderts und zählt bis heute zu meinen absoluten Lieblingsbüchern aller Zeiten. Umso ernüchterter war ich vom 2020er-Nachfolger "Johanns Bruder", bei dem in meinen Augen überhaupt nichts zusammenpasste. Mit dem jüngst im Insel Verlag erschienenen "Das Summen unter der Haut" behält der Hamburger Autor seinen Drei-Jahres-Rhythmus bei - und macht glücklicherweise einen großen Schritt zurück in Richtung des melancholischen Entwicklungsromans.
Denn, so viel sei vorweggenommen, "Das Summen unter der Haut" ist ein sehr gelungener Roman geworden. Und das, obwohl er gleich im ersten Satz mit einem der vielleicht hässlichsten Wörter der deutschen Sprache beginnt: Brustwarzen. Vorangestellt ist dem Buch ein Zitat von Maik Klingenberg, womit der Leserschaft gleich die Richtung vorgegeben wird. Denn das Motto der "Tschick"-Hauptfigur ist nicht die einzige Verbeugung vor dem modernen Klassiker von Wolfgang Herrndorf.
Ich-Erzähler Julle ist ein liebenswerter Protagonist, der sich seiner Homosexualität erstaunlich früh bewusst ist. Im erzählerischen Präsens und meist kurzen Sätzen folgt man ihm lachend und weinend durch die vielleicht 31 aufregendsten Tage seines bisherigen Lebens. In nahezu jedem Satz spürt man die große Empathie des Schriftstellers für seine Hauptfigur. Vielleicht liegt es an dieser Empathie, dass Julle es trotz seiner "Andersartigkeit" erstaunlich leicht hat. Seiner älteren Schwester gegenüber hat er sich bereits geoutet, ein versehentliches Verplappern in einer Notsituation hat für ihn keine negativen Folgen. Die Freundschaft zu Axel verläuft - trotz der Gefühle Julles - reibungslos. Womit wir bei einem der Vorzüge des Romans wären, der sich bei näherer Betrachtung jedoch als Schwäche entpuppt. "Das Summen unter der Haut" ist ein Wohlfühlbuch. Fernab jeder Art von Zynismus mit nur wenigen Konflikten, die sich erstaunlich schnell in Luft auflösen. Das ist einerseits schön und vielleicht genau das Richtige für eine Sommerlektüre. Andererseits fehlen dem Buch dadurch ein paar Ecken und Kanten. Fast fühlt man sich ein wenig eingelullt. 1977, als die 14-Jährigen noch Queen hörten, ihre meiste Zeit draußen verbrachten. Als man sich gegenseitig Mixtapes schenkte oder selbstklebende Fotoalben. Ja, als 14-Jährige sich noch als Kinder bezeichneten - und sogar Kinder waren. Die pure Nostalgie, ohne jedoch kitschig zu sein. Höchstens ein bisschen glatt. Früher war zwar alles anders. Aber auch einfacher?
Das ist Kritik auf hohem Niveau, denn "Das Summen unter der Haut" ist so liebevoll, dass man Autor und Buch kaum böse sein kann. Gleichzeitig freut man sich über die zahlreichen Verneigungen vor Klassikern der Coming-of-Age-Literatur. Der Roman beginnt ausgerechnet in einem Freibad, womit Stephan Lohse vielleicht selbst voller Nostalgie auf sein eigenes Debüt zurückschaut. Es wird in Kapitel 19 eine weitere Freibadszene geben, die den romantischen Höhepunkt des Romans darstellt. Es gibt eine Tankstellenszene krimineller Natur, die vielleicht nicht ganz so verwegen endet wie in Herrndorfs "Tschick". Und wer denkt nicht an Stephen Kings "Die Leiche" (aka "Stand By Me"), wenn Julle und Axel in der verbrannten Hütte Karls Röntgenbilder betrachten - und dabei Angst haben, den verbrannten Karl selbst zu finden?
Zudem ist der Roman ein Mutmach-Buch, das gerade junge Leser:innen ansprechen sollte und vielleicht auch deshalb in weiten Strecken an einen sehr guten Jugendroman erinnert. Es füllt eine Nische, denn queere Literatur für sehr junge homosexuelle Kinder und Jugendliche gibt es auch heute noch viel zu wenig. Wahrscheinlich wäre ich 1988 komplett ausgeflippt, wenn ich Julles Satz auf Seite 30 hätte lesen dürfen: "Ich wusste schon mit elf, dass ich schwul bin." Das ist hinreißend und hätte mir und vermutlich einer ganzen Generation unvorstellbar gut getan. Insofern ist Julle ein Vorbild. Und seine Liebe zu Axel übrigens absolut verständlich und nachvollziehbar, denn diese Figur ist in ihrer Mischung aus Witz, Güte und Vernunft vielleicht schon ein wenig zu perfekt.
Ein weiterer Höhepunkt des Romans ist zweifellos das Finale. Während zuvor ein überwiegend heiterer Tonfall vorherrscht, den Stephan Lohse mit feinem Humor zeichnet, schlägt die Melancholie auf den letzten Seiten gnadenlos zu - und lässt offene Fragen und wirbelnde Emotionen zurück. Und so schließt man das Buch mit dem Gefühl, gemeinsam mit Julle und Axel einen unvergessenen Sommer erlebt zu haben. Eine nostalgischen Trip zurück in die eigene Kindheit und Jugend. Als alles anders war, und die Gefühle kaum greifbar.